„Die heutigen Versorgungslücken erhöhen das Risiko von Rückfällen massiv“ – Interview mit André Gamper

Erschienen am 19.09.2025 in ‚WirtschaftRegional‘

Interview: Tobias Soraperra
Bilder: Daniel Schwendener

Seit Mai ist André Gamper Direktor des Clinicum Alpinum auf Gaflei. Im Interview erläutert er, was sich im Bereich der psychologischen Behandlungen in Liechtenstein verbessern muss und welchen Beitrag das Clinicum dabei leisten kann.

Herr Gamper, welche Bedeutung hat das Clinicum Alpinum als Institution für das Land Liechtenstein?
André Gamper, Klinikdirektor am Clinicum Alpinum: Obwohl wir eine private Institution sind, möchten wir auch dem Art. 4 der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein nachkommen, der besagt: «Die oberste Aufgabe des Staats ist die Förderung der gesamten Volkswohlfahrt.» Dies beinhaltet auch die Gesundheit, und das geht nur gemeinsam. Da wir einen OKP-Vertrag mit den Liechtensteiner Krankenkassen haben, können wir Patienten aus Liechtenstein nach erfolgter Zusage der Krankenkasse sofort und ohne Wartefrist aufnehmen und umgehend mit der Behandlung beginnen. Ohne dieses Angebot müssten Patienten aus Liechtenstein auf Institutionen in der Schweiz ausweichen, wo die Wartefrist oft mehrere Monate beträgt. Wichtig ist uns auch, psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren und die Gesellschaft dahingehend zu sensibilisieren.

Wie wichtig ist es, die Bevölkerung über psychische Erkrankungen aufzuklären?
Es gilt, Vorurteile abzubauen und Menschen mit psychischen Problemen zu unterstützen, damit sie Hilfe zur Selbsthilfe suchen, sich wieder am gesellschaftlichen Leben beteiligen und ein besseres Wohlbefinden erfahren können. Darum stimmt es mich auch traurig, wenn Teile der Bevölkerung, auch wenn dies ein eher kleiner Teil ist, den Sinn unserer Institution nicht sehen.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Unser Nachteil ist, dass im psychiatrischen Bereich das Resultat einer Behandlung meist nicht sofort sichtbar ist. Bei körperlichen Verletzungen wie z. B. einem Beinbruch ist dies anders. Wenn aber jemand in Berührung mit einer Depression oder Erschöpfungserkrankung gekommen ist, selber oder aus dem familiären Umfeld, so ist das Verständnis für unsere Institution klar da.

Psychische Leiden scheinen in den vergangenen Jahren zugenommen zu haben. Täuscht dieser Eindruck?
Nein, der täuscht nicht. Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) rechnet damit, dass im Jahr 2030 die sogenannten affektiven Störungen (Angst, Zwang, Panik, Depression) die häufigsten Krankheitsformen darstellen werden. Allein in der Schweiz sind diese in den letzten 10 bis 15 Jahren um über 30 Prozent gestiegen. Jede sechste Person leidet im Laufe ihres Lebens einmal an einer Depression. Sie schränkt den Alltag der Betroffenen massiv ein und verursacht längere Arbeitsausfälle als jede körperliche Beeinträchtigung. Entsprechend schwer belasten unbehandelte Depressionen das Gesundheits- und Sozialsystem sowie die Volkswirtschaft.

Welche Faktoren spielen dabei aus Ihrer Sicht eine Rolle?
Internet und soziale Netzwerke führen dazu, dass sich die Welt immer schneller dreht, alles immer sofort erledigt werden muss und wir mit Informationen überflutet werden. Mit dieser Fülle und Geschwindigkeit ist der Mensch oft schlichtweg überfordert, da er dafür nicht ausreichend ausgelegt ist. Die unsichere Weltlage trägt ebenfalls zu dieser Entwicklung bei. Täglich erreichen uns zahlreiche Meldungen über Kriege wie in Gaza oder der Ukraine oder andere Katastrophen, was zwangsläufig aufs Gemüt schlägt. Dazu kommt noch die unsichere wirtschaftliche Situation mit der Inflation, wodurch Prämien, Lebensmittel, Mieten und vieles andere teurer werden. Das Aufkommen von künstlicher Intelligenz verstärkt zudem die Angst vor dem Jobverlust. All diese Faktoren begünstigen Depressionen und andere psychische Erkrankungen.

Welches sind die grössten Herausforderungen, mit denen sich eine Gesundheitsinstitution in der heutigen Zeit konfrontiert sieht?

Dazu gehört sicherlich der Fachkräftemangel. Um Patienten mit psychischen Erkrankungen optimal behandeln zu können, braucht es gut ausgebildetes Personal. Wir sind gegenwärtig in der glücklichen Lage, bestens ausgebildete Mitarbeitende in allen Bereichen zu haben. Da wir in unserer Arbeit nicht einfach auf Maschinen zurückgreifen können, ist das Einspar potenzial im Personalbereich entsprechend gering. Als private Institution haben wir leider auch Nachteile, so wurden wir, als jüngstes Beispiel, beim Thema Pflegeinitiative nicht miteinbezogen. Die Mehrausgaben wie Zulagen und andere Anreize für Mitarbeitende der öffentlichen Institutionen werden zusätzlich durch das Land gedeckt. Damit wir nun weiterhin wettbewerbsfähig bleiben, müssen wir nachziehen und die zusätzlichen Kosten selbst tragen, was immer mehr einem Balanceakt gleichkommt.
Umso mehr freut es mich, dass wir in der Zwischenzeit viele positive Signale erhalten und von verschiedenen Seiten Unterstützung zugesagt bekommen haben. Ich denke, gemeinsam können wir die Grundversorgung im Land sicherstellen. Dafür brauchen wir aber die volle Unterstützung vonseiten der Politik und der Amtsstellen, welche sich der Notwendigkeit einer solchen Einrichtung bewusst sind und uns nicht nur als Kostentreiber sehen.

Was gibt es in Liechtenstein bei der medizinischen Grundversorgung im psychiatrischen Bereich noch zu verbessern?
Derzeit ist der Zugang zu einer optimalen ambulanten Nachversorgung nach einem stationären Aufenthalt noch sehr schwierig, weil die niedergelassenen Psychiater schon seit Längerem überlastet sind. Bis Patienten einen entsprechenden Termin bekommen, kann es bis zu fünf oder sechs Monate dauern. Hier hätten wir die notwendigen Kapazitäten und wir haben dem Land auch unsere Unterstützung angeboten

Wie würde ein ambulantes Angebot der Klinik Gaflei ohne Tagesklinik aussehen?
Das Clinicum verfolgt von Anbeginn an das Ziel, schwer psychisch erkrankten Menschen langfristig und nachhaltig zu helfen. Ein notwendiges Angebot ist wie eben erwähnt die Nachsorge. Nach einer stationären Behandlung ist die ambulante Nachsorge und abgestimmte berufliche Integration von entscheidender Bedeutung, um einen Rückfall zu verhindern. Durch die weitere Nachbehandlung des Patienten durch unser medizinisch-therapeutisches und pflegerisches Fachpersonal, das den Patienten kennt und zu dem bereits ein Vertrauensverhältnis besteht, können die immer länger werdenden Wartezeiten auf ambulante oder teilstationäre Anschlussbehandlungen bei niedergelassenen Ärzten und Psychologen überbrückt werden. Wir können hier die fachlichen und personellen Ressourcen zur Verfügung stellen. Die heutigen Versorgungs lücken erhöhen das Risiko von Rückfällen massiv, welche auch zu unnötigen und kostspieligen Wiedereintritten in die stationäre Versorgung führen. Konkret stellen wir uns auch vor, eine ambulante Krisenintervention (Notfallsprechstunde) zur kurzfristigen Stabilisierung des Patienten in akuten Belastungssituationen anzubieten. Nicht erfolgte oder zu späte Behandlungen belasten das Gesundheitssystem und bremsen den Genesungsfortschritt des Patienten. Warum also nicht vorhandene Kapazitäten und mögliche Synergien im Land nutzen? Seit Längerem ist unser Antrag für die Erbringung von ambulanten Leistungen beim Amt für Gesundheit hängig. Wir warten hier auf die definitive Bewilligung.

Kommen wir noch zu Ihnen persönlich: Sie arbeiten seit über 20 Jahren im Gesundheitswesen. Wie sind Sie in dieser Branche gelandet?
Wie so vieles im Leben hat auch das mit einem Zufall zu tun. Nach meiner Lehre habe ich ein Wirtschaftsstudium an der Fachhochschule St. Gallen gemacht und im Jahr 2005 erfolgreich abgeschlossen. Danach galt es, das Erlernte in der Arbeitswelt einzubringen. Nach diversen Bewerbungen hat mir die Psychiatrische Klinik in Littenheid (Clienia) eine Stelle als Junior Controller angeboten und mir so den Einstieg ins Gesundheitswesen ermöglicht. Und da bin ich auch bis heute geblieben. In den folgenden 20 Jahren konnten ich eine Menge Erfahrung in den Bereichen Psychiatrie, Somatik (KSSG) und Rehabilitation (Valens) sammeln.

Was macht für Sie die Arbeit in diesem Bereich aus?
Das Gesundheitswesen ist nicht mit anderen Bereichen wie beispielsweise der Industrie vergleichbar. Hier stehen immer der Mensch und dessen Genesung im Mittelpunkt. Es ist jedes Mal ein schöner Moment, wenn ein Patient mit klaren und offensichtlichen Gesundungsmerkmalen die Klinik verlässt und gestärkt ins soziale Leben zurückgehen kann. Dies ist bei uns am Clinicum Alpinum bei 90 Prozent aller Patientinnen und Patienten der Fall. Natürlich ist uns auch bewusst, dass man es nicht immer allen recht machen kann. Die Unzufriedenen sind naturgemäss leider oft die lautesten.

Gibt es noch weitere Punkte, die Sie bei der Arbeit in einer Gesundheitsinstitution schätzen?
Sicherlich die Fülle an unterschiedlichen Menschen aus verschiedenen Berufsgruppen, die man hier antrifft. Von Ärzten über Therapeuten, Psychologinnen bis zu Pflege-, Reinigungs-, Küchen-, Service- und Verwaltungspersonal ist alles dabei. Dieser Mikrokosmos aus Personen mit unterschiedlichem Background ist sehr bereichernd und führt auch zu innovativen Ideen.

Sie sind seit März 2019 für die Clinicum Alpinum AG tätig und somit seit der Eröffnung der Klinik am 1. April 2019 mit dabei. Wie gefällt es Ihnen hier auf Gaflei?
Es ist wirklich ein schöner Ort hier, knapp 1500 Meter über dem Rheintal, und es gefällt mir sehr gut. Wir liegen bewusst ein bisschen abseits der Agglomeration in der Stille und Ruhe der Natur. Wie Sie schon sagen, durfte ich seit Anbeginn die Struktur und Prozesse praktisch von null an mit aufbauen und implementieren.

«Es gilt, Vorurteile abzubauen und Menschen mit psychischen Problemen zu unterstützen.»

Im Mai haben Sie das Amt des Klinikdirektors übernommen. Wie kam es dazu?
Anfang dieses Jahres hat mich Michaela Risch, die damalige Klinik direktorin, im Vertrauen informiert, dass Sie eine neue Herausforderung annehmen möchte. Sie fragte mich in meiner damaligen Funktion als ihren Stellvertreter, ob ich ihre Nachfolge übernehmen möchte. Das war sowohl ihr persönlicher Wunsch als auch jener des Verwaltungsrats. Der operative Betrieb sollte an jemanden übergeben werden, der mit dem Haus und der Gründungsphilosophie vertraut ist. Nach kurzer Überlegung habe ich dann zugesagt und mich der neuen Herausforderung gestellt.

Wie hat sich Ihr Arbeitsalltag dadurch verändert?
Sehr stark. Ich stehe persönlich mehr im Mittelpunkt und bin Ansprechperson für 75 Mitarbeitende. Wichtig ist mir auch eine Open-door-Philosophie. Jeder und jede darf mit Problemen oder Anliegen jederzeit persönlich zu mir kommen, ganz egal, worum es geht. Dann bleibt zwar ein bisschen Arbeit liegen, aber das nehme ich gerne in Kauf. Ausserdem hatte ich zuvor weniger Berührungspunkte mit dem medizinischen Bereich. Jetzt ist es wichtig zu wissen, was läuft und wo allenfalls Unterstützung notwendig ist. Und die vertiefte Auseinandersetzung mit den Prozessen braucht einfach Zeit.

«Es ist jedes Mal ein schöner Moment, wenn ein Patient mit klaren und offensichtlichen Gesundungsmerkmalen die Klinik verlässt.»

Wie möchten Sie das Clinicum Alpinum weiterentwickeln?
An erster Stelle steht für mich, den Zugang zum Schweizer Markt zu forcieren. Durch das Territorialprinzip zahlen die Kantone den OKP-Anteil nicht ins Ausland. Obwohl Liechtenstein und die Schweiz sehr viel gemeinsam haben, besteht im Gesundheitswesen eine effektive Grenze und unsere Behandlungsangebote stehen vielen in der Schweiz wohnhaften Personen nicht zur Verfügung. Es sei denn, sie oder einer ihrer Angehörigen arbeitet in Liechtenstein. Auch wäre es wünschenswert, wenn die Aufteilung der Kosten in Liechtenstein gleich gehandhabt wird wie in der Schweiz.

Was meinen Sie damit konkret?
In der Schweiz werden die Kosten bei einem stationären Aufenthalt sowohl in der Somatik (Körpermedizin), Rehabilitation als auch in der Psychiatrie zu 45 Prozent durch die Krankenkasse und zu 55 Prozent vom Kanton übernommen. In Liechtenstein sind die Leistungen der Somatik wie auch der Rehabilitation ebenfalls so geregelt, nur im Bereich der Psychiatrie werden die Kosten zu 100 Prozent von der Krankenkasse und letztlich de facto nur vom Prämienzahler getragen. Hier wäre eine Angleichung an die Schweiz wünschenswert.

Zur Person

André Gamper ist seit Mai 2025 Klinikdirektor des Clinicum Alpinum auf Gaflei. Zuvor war er bei verschiedenen Gesundheitseinrichtungen für den Finanzbereich zuständig. Von 2005 bis 2011 arbeitete Gamper als Controller bei der Clienia-Gruppe, anschliessend war er in derselben Funktion für das Kantonsspital St. Gallen (2011–2014) und die Kliniken Valens (2015–2019) tätig. Mit der Eröffnung der Klinik auf Gaflei übernahm Gamper die Leitung der Finanzen der Clinicum Alpinum AG, bevor er in diesem Frühjahr die Nachfolge von Michaela Risch als Klinikdirektor antrat.

Das pdf des Interviews mit WirtschaftRegional finden sie hier.

Jasmin Hüller
Autor:in Jasmin Hüller
Das CLINICUM ALPINUM ist spezialisiert auf die Behandlung von Depressionen und affektiven Erkrankungen. Mit unserem Blog möchten wir über psychische Erkrankungen aufklären, über die Klinik und die Therapien informieren und einen Beitrag zur Entstigmatisierung leisten.